Medikamente mit Nebenwirkungen auf Muskelapparat?


Von Lisa Lochner - Pharmazeutin/Apothekerin, Pohltherapeutin & Tilo Mörgen - Dipl. Soziologe, Fachautor, Pohltherapeut

Patienten und PatientInnen nehmen aufgrund ihrer Beschwerden oder anderer Vorerkrankungen oft eine Reihe von Medikamenten, die eine negative Wirkung (Nebenwirkung) auf das muskoskelettale und myofasziale System haben können. 

Das kann weitere „unerklärliche“ Beschwerden nach sich ziehen.

Welche Beschwerden können im muskoskelettalen und myofaszialen System auftreten? 

•    Gelenkschmerzen (Athralgie)
•    Rückenschmerzen
•    Schmerzen in den Armen und Beinen
•    Bewegungs- und Gangunsicherheit (Ataxie)
•    Muskuläre Beschwerden (Schmerzen, Myalgien bis hin zu klinisch manifesten Myopathien) …

(aus gelber Liste - Wirkstoffe, häufige Nebenwirkungen)

Definition „Nebenwirkungen" laut dem Arzneimittelgesetz

Jede schädliche und unbeabsichtigte Reaktion auf ein Arzneimittel. In der Humanmedizin ist der Begriff der Nebenwirkungen nicht an die Anwendung des Arzneimittels entsprechend den Vorgaben der Packungsbeilage gekoppelt.

Reaktionen, die durch Überdosierung, Medikationsfehler oder dem sogenannten „Off-Label-Use", werden daher ebenfalls als Nebenwirkung definiert. (Quelle: BfArM)

Häufig und sehr häufig - was besonders schmerzt.

Um das Nebenwirkungspotential einschätzen zu können, sind Begriffe in einem Beipackzettel genau definiert.

  • •    „Sehr häufig": mehr als 1 Behandelter von 10 (mehr als 10%)
  • „Häufig“: 1 bis 10 Behandelte von 100 (1-10%)
  •  „Gelegentlich“: 1 bis 10 Behandelte von 1000 (0, 1-1 %)
  • „Selten“: 1 bis 10 Behandelte von 10000 (0,01-0, 1%)
  • „Sehr selten": weniger als 1 Behandelter von 10.000 (weniger als 0,01%)

Innerhalb der Studienphasen von Arzneistoffen werden alle auftretenden Reaktionen dokumentiert, auch wenn sie letztendlich nicht zwingend der Auslöser sein müssen. Und wieder andere negative Wirkungen treten erst nach abgeschlossenen Studien auf und sind nicht aufgeführt.

Nicht alles, was verschrieben wird, hilft auch 

Wie wichtig eine sogfältige Diagnose und Indikation bei der Schmerzbehandlung ist, zeigt eine Studie von Viniol/Hickstein et. al (2019) am Beispiel von Pregabalin/Gabapentin (P/G): „Die Ergebnisse zeigen, dass P/G bei chronischen Schmerzen weitgehend verschrieben wird, unabhängig von neuropathischen Schmerzdiagnosen. Die hohe Abbruchrate deutet auf einen Mangel an therapeutischen Vorteilen und/oder das Auftreten von Nebenwirkungen hin.“ 
Nehmen wir als Beispiel den Zahnarzt Rainer B. (58 Jahre), der zu uns die pohltherapeutische Praxis kam mit starken Gelenkschmerzen, Schwindel, Geschmacksstörungen, Kopfschmerzen und Müdigkeit und den zahnarzttypischen Verspannungen und Beschwerden durch verdrehte und vorgebeugte Körperhaltung. Die berufsbedingten Muskelverkürzungen sind gut köpertherapeutisch behandelbar. Geschmackstörungen und Gelenkschmerzen scheinen jedoch Nebenwirkungen seiner Medikation zu sein. Aufgrund von erhöhtem Blutdruck nimmt er seit Jahren Ramipril. Eine Zahnwurzelbehandlung durch einen Kollegen erfolgte in letzter Zeit erfolgreich und wurde mit Clindamycin nachbehandelt.

Wichtige Arzneistoffgruppen mit möglichen muskoskelettalen Nebenwirkungen:

  • Statine (Cholesterinsenker) wie Atorvastatin, Simvastatin, Rosuvastatin ….
  • Antiöstrogene, Aromatase Hemmer und Interferone: z.B. Anastrozol, Tamoxifen
  • Blutdrucksenker (Betablocker/ACE Hemmer): z.B. Carvedilol, Ramipril, Propranolol, Bisoprolol...
  • Antidepressiva und Psychopharmaka: Citalopram, Venlafaxin, Amitriptylin, Duloxetin, Imipramin, Mirtazapin, Moclobemid, Tranylcypromin.....
  • Diuretika: z.B. Thiaziddiuretika
  • Schlafmittel und Schmerzmittel: Benzodiazepine (Diazepam, Bromazepam, Zolpidem, Zopiclon...)
  • Asthmamedikamente: z.B. Theophyllin
  • Cholinesterasehemmer (Alzheimer, Myasthenie): Rivastigmin, Donepezil.... Antiarrythmika. z.B. Amiodaron 
  • Antiepileptika: Pregabalin (Lyrica), Gabapentin
  • Antimykotika: „Azole“
  • Antibiotika: Penicilline/Fluorchinolone: Ciprofloxacin, Clindamycin
  • Interferone: MS und Hepatitisbehandlung
  • Antazida (Entsäuerungsmittel)
  • Chloroquin (Rheuma-, Malariatherapie), D-Penicillamin (Rheumatherapie)
  • Langzeit-Cortison-Therapie (aber Immer in Begleitung mit anderen Symptomen, keine isolierte Nebenwirkung), auch in Form von Sprays
  • Schilddrüsenhormone, falls nicht richtig eingestellt, v.a. Hypothyreose (Schilddrüsenunterfunktion)
  • Anticholinergika/ Antikonvulsiva(Parkinsontherapie/Antiepileptika): L-Dopa, Carbamazepin
  • Antidepressiva : Venlafaxin, Amitriptylin, Mirtazapin, Quetiapin, Citalopram, Sertralin
  • Antidiabetika: Metformin
  • Säureblocker (PPI´s): Omeprazol, Pantoprazol

Wann sollte ich besonders aufpassen bei möglichen Nebenwirkungen?

Diese Liste ist nach ersten Einschätzungen bei weitem nicht vollständig und es lohnt sich auf jeden Fall bei jeder Medikation, die chronisch verordnet ist und vor allem systemisch eingenommen wird, im Falle eines unerwarteten Therapieverlaufes oder zusätzlicher Beschwerden, sich das Nebenwirkungspotential genauer anzuschauen.

Welche Medikamente in der Praxis besonders beachtenswert sind?

Aus der Praxis sind besonders Statine, Schlaf- und Beruhigungsmittel, Schmerzmittel, Antidepressiva, Neuroleptika, Herz- Kreislaufmedikamente und Antidiabetika wichtig, da sie sehr häufig und chronisch verordnet werden.

Ein Tipp: Medikationsberatung kann kostenlos sein

Lassen Sie sich von ihren Ärzten bei Nebenwirkungssymptomen beraten. Setzen Sie nicht einfach die Medikamente ab. Nehmen Sie mehrere Medikamente? Die Problematik bei der Gabe verschiedener Medikamente wurde schon früh bedacht.

».... so finden die Aerzte dennoch oft nöthig eher als eines mit einander zu verbinden, um entweder die Kraft des einen mit der des andern zu verstärken, oder aber mehr als eine Absicht auf einmal zu erreichen, endlich auch öfters eine schädliche Nebenwirkung des einen durch die Gabe des andern zu verhindern« (Becher, 1772)

Versuchen sie eine pharmakologische Beratung zu bekommen. Es gibt Ärzte und Kliniken, die so etwas anbieten. Neuerdings gibt es diesen Service auch bei Apotheken sogar mit Erstattung durch die Krankenkasse für Patient*innen: Das nennt sich erweiterte Medikationsberatung bei Patienten mit Polymedikation. Wen Sie also fünf oder mehr Medikamente täglich einnehmen, werden die Kosten (derzeit rund 100 Euro) erstattet. 

 

Zusätzlich ist es sinnvoll, die vorhandenen Beschwerden - sofern myofasziale Ursachen wie am Beispiel Rainer B. - berufsbedingte Verkürzung der Muskulatur - zugrunde liegen, durch erfahrene Pohltherapeut*innen behandeln zu lassen.

© 2024 LLochner, TMoergen – Grafik: T. Moergen

Literatur und Quellen

Nachschlagewerke

Arzneistoffe: https://www.gelbe-liste.de/wirkstoffe/
Off-label-use: https://www.bfarm.de/DE/Arzneimittel/Zulassung/Zulassungsrelevante-Themen/Expertengruppe-Off-Label/_node.html

Bewegung und Tipps

Aktiv durch den Alltag – Bewegungsmöglichkeiten auch für Zuhause. Ein Übungsprogramm für Patientinnen und Patienten mit neuromuskulären Erkrankungen des Friedrich-Baur-Institut der Neurologischen Klinik und Poliklinik, Klinikum der Universität München.
www.klinikum.uni-muenchen.de/Friedrich-Baur-Institut/download/de/krankheitsbilder/wissenswertes/Heimtraining.pdf
Bruckmann R., Mörgen T., GesundMove - eine kostenlose App mit pohltherapeutischen Tipps, Übungen und Anleitungen
IPHONE: https://apps.apple.com/de/app/gesundmove/id6446644836?uo=4 
Android-Phone: https://play.google.com/store/apps/details?id=com.goodbarber.praxisbruckmann
Web-APP (für PC, MAC, Laptop): https://praxisbruckman1.goodbarber.app/

Literaturnachweise

Becher, D.: Neue Abhandlung vom Karlsbade. Dritter Theil. Von der Wirkung des Karlsbades in Krankheiten. Prag 1772, S. 39.
Bruckmann R., Unter der Gürtellinie: Unerklärliche Beschwerden im urogenitalen Bereich körpertherapeutisch verstehen und behandeln, Droemer-Knaur, 2020
Heuß D. et al., S1-Leitlinie Diagnostik und Differenzialdiagnose bei Myalgien. 2020, Leitlinien für Diagnostik und Therapie in der Neurologie. AWMF Registriernummer: 030/051, www.dgn.org/leitlinien
Horber F., Ritzmann P., Muskuläre Probleme infolge von Medikamenten. pharma-kritik, 1991;13(3):9-12
Hüttemann D., Rohrer B., Alles Wichtige zu den pharmazeutischen Dienstleistungen in: Pharmazeutische Zeitung, vom 21.06.2022 12:30 Uhr - https://www.pharmazeutische-zeitung.de/alles-wichtige-zu-den-pharmazeutischen-dienstleistungen-133851/
Knorr H., Nebenwirkungen von Medikamenten an Muskel, Gelenk und Nerv – Drei Fallberichte. Manuelle Therapie 2016; 20: 172–177, DOI 10.1055/s-0042-112278 manuelletherapie 2016; 20: 172–177 © Georg Thieme Verlag KG, Stuttgart · New York · ISSN 1433-2671, https://www.thieme-connect.de/products/ejournals/pdf/10.1055/s-0042-112278.pdf
Leopold D., DAZ 2020, Nr. 25, S. 60, 18.06.2020, https://www.deutsche-apotheker-zeitung.de/daz-az/2020/daz-25-2020/was-hinter-muskelschmerzen-steckt
Müller-Wohlfahrt H-W. et al., Muskelverletzungen im Sport, Thieme Verlag, 2018
Unerwünschte Arzneimittelwirkung Schmerzen durch Medikamente, Pharmazeutische Zeitung, Ausgabe 12/2015, https://www.pharmazeutische-zeitung.de/ausgabe-122015/schmerzen-durch-medikamente/#:~:text=Außer%20bei%20Statinen%20finden%20sich,in%20allen%20Fällen%20vollständig%20geklärt.
Viniol A, Ploner T, Hickstein L, et al Prescribing practice of pregabalin/gabapentin in pain therapy: an evaluation of German claim data BMJ Open 2019;9:e0