Faszien: Neue Forschungshinweise zur Diagnostik und Therapie
Die Forschung meldet sich zu Wort mit dem interdisziplänerem Buch "Faszientraining in Sport, Bewegung und Therapie". Statt mehr und mehr „high technology“ und weniger „manueller Therapie“ werden hier vor allem anschaulich die evidenzbasierte Wertigkeit der Felder Sport, Bewegung und Therapie dargestellt. Es ist ein Band worin die HerausgeberInnen (Schleip, Wilke und Baker) selbst, oder mit Anderen, wichtige Erkenntnisse für Therapeuten, Ärzte und Verbände im Gesundheitsbereich ausbreiten. Trotz der thematischen Breite wird es nicht uferlos.
Wissenschaft schafft Wissen
Man spürt beim Lesen, dass hier 51 Wissenschaftler*innen versuchen, möglichst einfache Theorien aufzustellen und naheliegende Lösungen auf Evidenz zu prüfen. Das mag daran liegen, dass hier keine/r einen Nobelpreis erringen möchte oder aber daran, dass hier klug und clever wissenschaftseffizient Forschungsgelder genutzt werden sollen. Damit ist es möglich, dass evidente klinische Wirkzusammenhänge herausgefunden werden, bevor physiologische Zusammenhänge komplett geklärt sind. Aspirin läßt grüßen. Wer sich auf dieses Feld einlassen will und davon keinen Kopfschmerz bekommt, ist bei den Autor*inenn bestens aufgehoben.
High Tech - Low Touch?
Kritisch sehe ich (Rezensent) die Anwendung technologischer Verfahren in der myofaszialen Therapie - als Pohltherapeut® liegt der Schwerpunkt des Rezensenten in der manuellen Therapie, der Empathie und der Spürbarkeit. Das Buch ist hier angenehm maßvoll. Bauermeister und Kraus stellen dagegen glänzend dar, wie bildgebende Verfahren die Diagnostik und die Forschung unterstützen können. Denn manchmal wird die Forschung von klebrigen Fasziengewebe blockiert: Kadaverforschung benutzt Formalin und hier scheint es so zu sein, dass besonders Faszien vermehrt, so wie es Wilke beschreibt, in eine Art klebrige Auflösung geraten. Jan Wilke beschreibt daher die Probleme beim Nachweis (Evidenz) myofaszialer Ketten. Gut, dass hier die Forschung kreativ mit den geeignneten, zerstörungsfreien, bildgebenden Techniken versucht, valide Erkenntnisse zu gewinnen. Das bestätigt auch ein aktueller Report in SCIENCE. Wilke et. al. in SCIENCE 2024, untersuchen hier mit bildgebenden Verfahren die Lumbalfaszie (genauer: Thoracolumbarfaszie) und das Thema Rückenschmerz und stellen fest, dass mit moderater Evidenz ein Ultraschallverfahren mögliche Schmerzquellen in der Faszie sichtbar macht (SCIENCE, 2024, 14:20044). Für Rückenschmerzpatienten*innen und für „Rückenschulen“ kann dies nur ein weiterer Anlass sein alterswürdige Konzepte zu verändern. Auch Schleip und Bartsch stellen im aktuellen Band mögliche Messverfahren im für und Wider vor. Wirkzusammenhänge von Faszienketten und myofaszialer Schichtung werden im Buch in vielen Artikeln anschaulich und wissenschaftlich fundiert beschrieben.
Manualtherapie als Lösung myofaszialer Schmerzen
Müller-Wohlfahrt und Klaus Eder kommen zu Wort. Der Eine, als Arzt, ein Apologet für zusätzlichen manuellen Spürsinn und erfolgreich wegweisend im Leistungssport, und der Andere, ein Therapeut, der den manuellen Spürsinn in diesen Bereichen zur Weltspitze getrieben hat. Und posthum kommt auch Leon Chaitow noch einmal zu Wort, der grundlegende Tipps und Infos zur Palpation (Tasten und Fühlen) sowie der Funktionsbeurteilung von myofaszialen Beschwerden gibt.
Verständnis myofaszialer Beschwerden
Was den Spürsinn angeht, ist, für manuelle Therapeuten*innen, der Artikel von Schleip und Stecco eine große Hilfe: "Faszien als Sinnesorgan". Auch um Patienten*innen erklären zu können, warum sich Schmerzen so oder anders anfühlen können. Von „stechend“ und „beißend“,„genau hier“ bis hin zu „flächig“, „tief“, „irgendwo da“ und „ganz ganz gemein“, „fies“. Wer mit diesem Buch den Faszien auf den Grund geht, versteht seine PatientInnen besser.
Locker vom Hocker?
Und denkt man an Rückenschmerz-Patienten, die manchmal schildern, dass sie bei einem Orthopäden wegen Rückenschmerzen waren, sich aber dennoch auf Anweisung locker zum Boden bücken konnten und die aufmunternden Worte hören (welche aber gar nicht so aufmunternd ankommen): "Ja geht doch. Nicht so schlimm." Donnerholt und Mayberry schreiben hier aufklärerisch über Hypo- und eben Hypermobilität.
Faszienfutter
Und wie oft werden TherapeutInnen gefragt: "Was kann ich sonst noch ändern, damit es mir wieder besser geht?" Den Einfluß beispielsweise von Ernährung und Belastung zeigen Steffen und Baar kurz und gekonnt auf.
GesundMoves
Oder wie wäre es mit Tanzen? Es werden also nicht nur Verständnis und Therapie behandelt. Bewegung als eine wichtige Säule wird nicht vergessen: Faszienfitness von Divo Müller und anderen; Fasziendehnung von Frederick und Krause; Laufen und Gehen wird betrachtet. Der Spitzensport kommt nicht zu kurz: Plyometrisches Training, Wurfbewegungen, Kampfsport, Ninja- und Parkourtraining und Tanzen. Tipps für und gegen Krafttraining sind enthalten. Rehabilitation in Sport (Rodriguez, Rio) und Umgang mit Verletzungen und Verletzungsgefahr (Eder, Patisi, Allen) werden anschaulich mit faszialer Relevanz dargestellt.
Boxring oder Feldenkrais?
Petersen schreibt: „Boxer müssen lernen, alle Muskelspannungen loszulassen. Ein System das wirklich entspannt ist, muss keine Spannung überwinden.“ Da wird der Boxring zum Feldenkrais. Das klingt doch nach einem Paradigmenwechsel, nach neuer Freiheit und unserer Fähigkeit, trotz Schmerzen, Bewegungspotenzial und neue Bewegungen zu erlernen. Um es mit Moshé Feldenkrais zu sagen: Man denkt immer nur an das Ziel, an das
 Ende der Bewegung und nicht an die
 Leichtigkeit. Zielgerichtetheit blockiert das
 Gehirn. Lesen Sie: Runde um Runde.
Langsam und sanft?
Und es wäre nicht Wissenschaft, wenn nicht auch kontroverse Themen offen angegangen würden: So schreibt WILKE über das Dehnen: „Trotz umfangreicher Bemühungen sind die Mechanismen des Dehnens noch nicht vollständig geklärt (…) Neben den morphologischen Anpassungen der gedehnte Gewebe spielt das zentrale Nervensystem eine Rolle.“ Und aus Sicht eines Pohltherapeuten könnte es auch bedeuten, dass der Blick zusätzlich auf Ruffini-Rezeptoren (sanftes Streichen) wie auch auf Effekte der Pandiculations (geheimsnivoller Wechsel von isometrischer/exzentrischer Spannung mit einer langsamen Bewegung) nach Thomas Hanna - wie es eben Pohltherapeuten*innen einsetzen - in Zukunft spannende Fragen der Wissenschaft sein könnten, um evidenzbasierten Schmerzbehandlungsmethoden die Türen zur Genesung der Patienten*innen zu öffnen.
Schlussfolgerung
Diese Buch kann man/frau genießen wie ein gesundes Müsli oder ein leckeres Essen und jeder Löffel schmeckt. Auslesen und Leermachen muß nicht das Ziel sein, sondern Entdecken.
So what?
Genau! Der klinische Nachweis: Evidenzbasierte Erkenntnisse wird exzellent und anschaulich geführt. Darunter fällt auch die Erkenntnis, dass, neben Muskeln, die Faszien eine herausragende Bedeutung haben, egal, ob es sich um Schmerztherapie, Training oder Spitzensport handelt. Das Gewußt-Wie wird hier in Zukunft wichtig. Robert Schleip beschreibt dies als Aufbruchsstimmung seit 2007, wo es 2024 immer noch ganz viel zu entdecken gibt. Manches in diesem Buch gab es auch schon als Thema im Band von 2016 - Faszien in Sport und Alltag. Vieles aber ist eben aktualisiert in „Faszientraining in Sport, Bewegung und Therapie“ und neu. Das ist Forschung und Wissenschaft. Das ist die Essenz und Evidenz dieses Buches für Mediziner*innen, ManualtherapeutInnen und Fachleute im Bereich Sport, Körper- und Schmerztherapie und viele mehr, denn "wir können nicht spüren, ohne zu handeln, und wir können nicht handeln, ohne zu spüren." (Thomas Hanna) Und was der Band neben solchen zitierten Anschauungen realisiert, er formt klinisch evidente Begriffe, damit eben die Begriffe nicht leer bleiben und die Anschauungen nicht blind geraten (nach I. Kant).
Rezensent/Interessenverquickung: Tilo Mörgen, Dipl. Soziologe, Autor (Kloß im Hals, Rückenschmerzen selbst behandeln, APP GesundMove) und Pohltherapeut®