Wenn ein Sportwissenschaftler ein Buch schreibt, dann geht es auch um Weltrekorde und Meisterschaft. Und um Mäuse: Nein, nein, keine Knete, sondern Namensgeber für Muskeln (mus musculus – die Hausmaus). Und jeder trägt solche Weltmeister mit sich herum. Den fleißigsten Muskel: Der Herzmuskel, der pumpt und pumpt - zwischen 8000 und 10.000 Liter am Tag. Oder Mustafa Ismail - der pumpt jeden Tag mit Gewichten und hat weltmeisterliche 78 cm Oberarmumfang. Und unsere Supermaus M. orbicularis oculi - der Augenringmuskel benötigt nur 0,3 Sekunden für einen Lidschlag. Gut, den fleißigen Ägyper tragen wir nicht mit uns herum, aber natürlich gerne in unserem Herzen 12 x 8 cm. Für Froböse ist die Muskulatur unser größtes Stoffwechselorgan. Er ist ein Apologet der Muskulatur. Wer das sportlich nimmt, kommt mit seinem Buch sehr gut klar. Vorab das Fazit: Wer das Buch liest, trägt gesicherte Erkenntnis mit sich und kann als Therapeut*in davon lernen.
Die Aufregung vor dem Start
Was alles gesund macht, wo es so oft weh tut, denke ich mir zuerst und fühle mich wie eine kleine Maus (mus), die im Arsch ist (culus). Ob das Buch nicht schon wieder so eines ist, wo man denkt: Ja, ich bin zu faul, fresse zu viel in mich hinein und sollte mal wieder mehr machen und machen und machen? Hiervon hat das Buch schon Einiges zu bieten, was den inneren Schweinehund bellen und jaulen lässt. Froböse ermahnt schon: Man könnte Alzheimer rund Demenz davonlaufen. Aber - er hat recht, dass wir trotz westlichem Reichtum bewegungsarm sind und er schwärmt davon, dass wir mit aktiven Muskeln viel gegen Diabetes Typ2 tun können und natürlich das mit dem Altern besser in den Griff bekommen. Ja, denke ich zögerlich, überzeugende Argumentation, aber persönliche Zweifel bleiben. Müssen wir nur das Richtige tun, den Jungbrunnen nur nutzen? Jeder kann es schaffen, vom Tellerwäscher zum Weltrekordhalter mit 120 Jahren? Das schwingt leider vom Buchtitel mit in meiner Seele und lässt meine Gedanken ganz schön baumeln: „So bleiben wir fit, schlank und mental in Balance.“ Tönt und dröhnt der Untertitel des Buches in den vielen schwingenden Freiräumen meins Hirns. So wie Froböse, wenn frau nicht gerade eine Fettstoffwechselstörung wie Lipödeme hat, blitzt es in meinem Fit-for-fun-Hirn kurz auf. Das Bild bellt bald blöd bald blind - der Titel ist einfach schlecht gewählt.
Auf, auf - Die Springmaus
Froböse legt die Latte hoch und vertritt seine Anschauung eben mit Nachdruck.
Nun haben wir als Pohltherapeuten aber auch die Verliererseite: Darunter Menschen, die sich gerne bewegt haben, gejoggt sind, gerne Schwimmen oder Radfahren und plötzlich sind da Beschwerden und vieles geht nicht mehr. Wer Froböse dieses Leistungsangebot- und Gesundheitsideal nicht übelnimmt - man könnte wohlwollend an eine Deformation professionell denken - , wird beim Lesen belohnt und erfährt sehr viel über etwas, was auch funktionelle Beschwerden auslösen kann und bekommt Hinweise und Ideen. Wer es schafft zum Beispiel Ausdauersport und Muskeltraining gut dosiert langfristig durchzuführen, der wird damit belohnt, dass latente Entzündungen auch im viszeralen Fett zurückgehen, das Muskel sich selbst reparieren, dass die Leber Glukose freisetzt anstatt sich dick und fett einzuigeln und uns müde zu machen. Zytokine werden dann abgebaut, die Insulinsensitivität verbessert - Insulinresistenz und Diabetes 2 drohen sonst.. Daher ist sein Werben, es sportlich zu nehme, sehr ernst zu nehmen. Froböse findet dabei ein gutes Mischungsverhältnis zwischen anschaulicher Sprache und wissenschaftlicher Fachbegründung, sodass man ihm und der Wissenschaft vertrauen lernt.
Der Startblock für die Hausmaus
„Ihr Geist als auch Ihre organischen Funktionen müssen sich auf die neue Anforderung einstellen“, schreibt wohlwollend Froböse. Es wird also kein Sprint für unsere 654 Skelettmuskeln, die wir zum Start mitbringen. Dabei aktivieren wir aber nicht alle Muskeln. Typ1 und Typ2-Fasern werden unterschiedlich aktiviert. Wie es Müller-Wohlfahrt für den Oberschenkelmuskel beschrieben hat besteht dieser aus 60% Typ2- und 40 Prozent Typ1-Faser. Für die Sportwissenschaftler also ein typischer Schnellkraftmuskel. Übrigens: Wer sich auf der Couch mit Potatoes-Chips verliert, der verwandelt seine Muskulatur paradoxerweise in ein Schnellkraftwunder - leider auch mit drohender Insulinresistenz, Bluthochdruck und Fettleber.
Zu spät gestartet. Eyh Alter! Hüpf Maus.
Ja, blöd gelaufen. Die Ziellinie kann aber dennoch erreicht werden. Hier macht Froböse Mut. Wer versucht die Sarkopenie zu entzaubern, gibt wichtige Tipps und Aufklärung zu Parkinson und wirbt für die Myokine - Heilstoffe der Muskeln. Er erklärt anschaulich Veränderungen der Hormone und Lebensstile und zeigt detailliert Alterungsprozesse der Muskulatur und motiviert: Mit 12 Wochen Training im Alter über 80 Jahren und regelmäßigen angepasstem Muskeltraining kann die muskuläre Leistungsfähigkeit dennoch um 175% gesteigert werden. Und er klärt hervorragend auf: Denn leider nutzen zwar noch einige Ausdauertraining, aber zu wenig Muskeltraining. Die vorbeugende Trickkiste besteht also aus Ausdauersport wie aus Muskeltraining. Und wer nicht beides trainieren kann oder will, dem empfiehlt Froböse wissenschaftlich begründet: Krafttraining. Hier kommen sich Faszienforschung von Schleip und Froböse ein wenig näher: Auch Schleip, Wessels und Oellerich kommen in ihrem neuen Buch darauf zu sprechen, dass Laufen, Gehen, Walken wichtige Effekte auf die Faszien hat, weil die myofasziale „Anstrengung“ höher ist als beim Radfahren oder Schwimmen (trotz des Wasserwiderstands). Sogar im Alter kann beispielsweise vorsichtiges Hüpfen (Schwerkraft!) helfen, wieder einen elastischeren Gang zu finden. Und Froböse würde sicher gewissenhaft anmerken: Langfristig angepasst üben. Aus pohltherapeutischer - sensomotorischer - Sicht, sind also Übungen, die mit Schwerkraft und Eigengewicht zu tun haben, die optimalen Cross-Over-Gelegenheiten, um nicht einen verstreuten Trainingsplan zu haben, der einem jeden Tag zu ganzen Trainingseinheiten im Wechsel von Kraft, Ausdauer und Schwungbewegung zwingt. Beispiel dazu finden Interessierte in der kostenlosen APP GesundMove (für APPLE und ANDROID) der Pohltherapeuten Bruckmann/Mörgen.
Du arme Maus (mus eclesia)
Zuwenig - nach Ansicht des Rezensenten - erwähnt Froböse funktionelle muskuläre Beschwerden, die eben bedingt durch unsere Lebensstile und Arbeitswelten entstehen können. Er erwähnt immerhin den Bruxismus (Zähneknirschen) infolge von Stressbelastungen und erwähnt beispielsweise YOGA als eine der Entspannungs- und Bewegungstechniken bei Ängsten und Depressionen. Hier fehlt allerdings ausnahmsweise die Tiefe der Betrachtung: Meiner ansicht nach müsste berücksichtigt werden, dass sich manche Formen der Depression eben nicht mit jeder Yogaübungsform vereinbaren lassen und oft Atem- und Nackenmuskulatur zuerst gelockert und funktionsfähig werden sollte, um Yoga entspannt zu genießen. Da hier aber evidenzbasierten Studien fehlen, geht der Autor diesen Aspekten nicht weiter nach. Das ist zumindest legitim und seriös Aber: Es gibt qualitative Methoden, Fallstudien, Grundlagenforschung, Beobachtungsstudien, die man zumindest anmahnen könnte, weil es sie eben zu wenig gibt. Aber es gibt auch Evidenz, hier zitiert Froböse Henneman, ohne leider direkten Bezug auf Beschwerden in der Folge zu nehmen. Zum Beispiel der Mausarm: Durch immer wiederkehrende gleichförmige Bewegungen, der schnell reagierenden Typ1- S0- Fasern, die zudem noch unglücklicherweise nicht gut miteinander kommunizieren und kooperieren, kommt es zu Überbelastungen und Entzündungen. Darüber informieren nicht nur Pohltherapeuten sondern auch Wissenschaftler wie Mense und nennen es Aschenputtelfasern. Davon ist auch das Fasziengewebe betroffen. Oder die vielen Bursitisfälle, die durch Überbelastungen/Druckbelastungen der myofaszialen Strukturen entstehen. Hier wünschte ich mir mehr Blick auf die Verlierer des Systems. Und wo wir bei den kleinen Fehlern oder Schwächen des Buches sind: Die Abbildungsunterschriften bezüglich der Rückenmuskulatur (tiefe und oberflächliche Muskulaturen des Rückens) sind glatt vertauscht, aber vorzüglich dargestellt.
Und jetzt auf das Siegerpodest
Das Beeindruckende des Buches sind aber die umfassenden Information zum Thema Muskel und die zitierten und anschaulich beschriebenen Forschungsergebnisse.
Erhellend die Informationen, welchen Einfluss die Muskeln auf:
- das Immunsystem haben,
- den Zucker- und Fettstoffwechsel,
- die Funktionen der Organe wie Herz, Leber, Niere und Darm
- die Stimulation der Wachstums- und Stoffwechselprozesse
- die Entwicklung der Mitochondrien
- unser emotionales System und unser Stresssystem
Hier zeigt Froböse sein Können und seine Erfahrung, von der Leser*innen profitieren können. Und er verweist auf die derzeitigen Grenzen des wissenschaftlichen Wissens. Er verallgemeinert nicht und vereinfacht nicht, wie es Liebscher-Bracht tut. Wer das Buch liest, trägt gesicherte Erkenntnis mit sich und kann als Therapeut*in davon lernen. Dort, wo es in Zukunft noch Klärungen bedarf, führt dies Froböse aus und gibt dann einen Einblick auf die Wunschliste seiner sportwissenschaftlichen Forschung.
Insgesamt eine gute Übersicht, darüber wie Muskeln funktionieren, was die Forschung dazu hergibt und wie man mit Mut und Zuversicht die eventuellen Schwächen angehen kann, all das gibt das kleine Büchlein dann doch noch her. Für Pohltherapeut*innen eine gute Quelle fachwissenschaftlicher verständlich geschriebener Inspiration. Für Patienten eine beindruckende Übersicht, was eine Hüpfmaus, Waldmaus, Hausmaus alles leisten muss, um der Katze zu entkommen - oder anders ausgedrückt: Muskeln sind faszinierend und Froböse vermittelt das für 654 Muskeln (bei Männern kommt noch der Cremaster dazu?). Und arme Kirchenmäuse können es sich auch leisten auch Ebook für 4,99 Euro auf Amazon (berfristet!), anstatt 19,99 VK als Hardcover.
Tilo Mörgen (2024)